Am 23. Februar finden in Deutschland vorgezogene Bundestagswahlen statt. Zentrales Wahlkampfthema: die Wirtschaftskrise. 2024 ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) das zweite Jahr in Folge geschrumpft – das gab es zuletzt 2002/03. Expert*innen der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Paderborn ordnen Stand- und Streitpunkte aus Sicht der Wissenschaft ein. Ihre Expertise beruht auf breit gestreuten Forschungsaktivitäten: Im von der Universität Paderborn geleiteten Sonderforschungsbereich (SFB) „Accounting for Transparency“ – der bundesweit erste SFB mit einem betriebswirtschaftlichen Schwerpunkt – untersuchen die Wissenschaftler*innen z. B., wie steuerliche Regulierung die Transparenz von Unternehmen beeinflusst. Die Forschung soll dazu beitragen, sinnvolle Regeln zur Unternehmenstransparenz und für ein transparenteres Steuersystem zu entwickeln. Die Fakultät hat zudem erst kürzlich eine Spitzenposition beim deutschlandweiten DFG-Förderatlas erreicht. Mit dem „Paderborn Research Center for Sustainable Economy“ (PARSEC) hat sie ihre Lehr- und Forschungsaktivitäten zur Nachhaltigkeit strukturell ausgebaut. Das Team versteht „sustainable economy“ dabei als langfristig orientierte ökonomische Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von gesellschaftlichen, umweltbezogenen und kulturellen Aspekten.
Herr Müller, mithilfe von sozialversicherungspflichtigen Kapitaleinkünften soll die Finanzierung der Krankenkassen bezuschusst werden – so lautet zumindest ein Vorschlag. Von privatem und in der Regel bereits versteuertem Ersparten abgesehen: Was würde das für Unternehmen und die Wirtschaft bedeuten?
Prof. Dr. Jens Müller: „Unternehmen sind von dem Reformvorschlag kaum betroffen, sondern nur deren Anteilseigner. Berücksichtigt man Freibeträge von niedrigen Kapitaleinkünften und Beitragsbemessungsgrenzen, so würde wohl nur ein geringes Aufkommen zur Finanzierung der Krankenkassen entstehen. Es wäre einfacher, die Steuern zu erhöhen, wenn man die Kapitaleinkommen für die Finanzierung zur Sozialversicherung stärker belasten möchte. Entscheidend ist aus meiner Sicht jedoch, die grundlegenden Probleme der Sozialversicherung anzugehen und gleichzeitig die Effizienz des Gesundheitssystems zu verbessern.“
Auch die hohen Energiepreise für Unternehmen gehören zu den großen Streitpunkten. Wie kann eine konstante Stromversorgung gewährleistet werden, ohne dabei Rekordpreise für etwa Wind- oder Solarstrom abzurufen? Inwieweit kann der EU-Emissionsrechtehandel ein wirksames Instrument für Unternehmen sein?
Prof. Dr. Martin Kesternich: „Hier lohnt sich zunächst einmal ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen. Zuletzt sind die Strompreise zum Beispiel für kleinere bis mittlere Industriebetriebe deutlich gefallen. Laut BDEW-Strompreisanalyse lag der Strompreis für diese Unternehmen im Jahresmittel 2024 bei etwa 17 ct/kWh und damit fast 8 ct/kWh unter den Preisen von 2023. Dennoch verharren die Strompreise auf hohem Niveau. Für den erforderlichen Ausbau der Erzeugungs- und Netzinfrastruktur sowie die Integration von erneuerbaren Energien in das Stromnetz sind hohe Investitionen notwendig. Langfristig tragen diese Investitionen dann aber zu niedrigen Strompreisen bei und werden die Elektrifizierung beschleunigen. Auf der Nachfrageseite gehen aktuelle Prognosen davon aus, dass in den nächsten fünf Jahren weniger Strom bezogen werden wird als bislang angenommen. Auch wenn die zu erwartenden Preispfade für Strom in den nächsten Jahren damit mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind, zeichnet sich ab, dass die Volatilität in der Stromerzeugung zu deutlichen Preisschwankungen führen wird. Aus ökonomischer Sicht ist es daher zentral, Flexibilisierungsoptionen noch stärker als bislang auszuschöpfen und durch entsprechende ökonomische Anreize neue Geschäftsmodelle zu eröffnen.
Weitere Anreize für Investitionen in emissionsarme Technologien sind durch den EU-Emissionsrechtehandel (EU-EHS) gegeben, der insbesondere die Sektoren Energieerzeugung und Stromproduktion sowie die energieintensive Industrie umfasst. Aktuell deckt der EU-EHS knapp 40 Prozent der Treibhausgasemissionen in Europa. Der Clou: Die regulierten Unternehmen können selbst entscheiden, ob sie ihre Emissionen senken und damit freie Emissionsberechtigungen am Markt handeln möchten. Gleichzeitig wird jedoch die Menge der handelbaren Berechtigungen in den nächsten Jahren weiter sukzessive verknappt. Der Preis für Emissionsberechtigungen setzt damit Anreize bei den beteiligten Unternehmen, ihre Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. Da sich der Preis für Emissionshandelszertifikate am Markt bildet, kann das Instrument beispielsweise im Gegensatz zu fixen Emissionssteuern rasch auf konjunkturelle Änderungen reagieren, ohne dabei die Auswirkungen auf das Klima zu verändern.“
Uneinigkeit herrscht vor allem auch beim Bürgergeld. Während die einen es ganz abschaffen und Vermögensprüfungen einführen wollen, sprechen sich andere für Auflagenverschärfungen und verbesserte Anreizsysteme aus. In der Diskussion sind u. a. höhere Hinzuverdienstgrenzen für Leistungsempfänger*innen. Wie radikal darf eine Reform sein und ab wann geht zu viel Solidarität auf Kosten der allgemeinen Wirtschaftslage?
Prof. Dr. Thomas Gries: „Erstmal müssen wir fragen: Was ist Bürgergeld? Bürgergeld soll denjenigen ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern, die ihren Lebensunterhalt aus unterschiedlichen Gründen nicht aus eigenem Einkommen decken können. Die Leistungen des Bürgergeldes können fehlende Einkommen vollständig ersetzen oder sie können ergänzend zu vorhandenen, aber sehr niedrigen Einkommen sein. Die Gründe für Bürgergeldleistungen sind sehr unterschiedlich und lassen sich zum Teil an den Gruppen von Leistungsempfänger*innen erkennen. Von den ca. 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeldleistungen beziehen, sind ca. 1,5 Millionen nicht erwerbsfähig, vor allem Kinder und Jugendliche. Die wichtigsten Gruppen der übrigen knapp 4 Millionen erwerbsfähigen Empfänger*innen von Leistungen haben entweder Leistungen im Rahmen von Ausbildung, Schule und Studium erhalten, waren in Maßnahmen zur Eingliederung in neue Jobs, haben als Alleinerziehende oder Pflegende Zuschüsse zur Einkommenssicherung erhalten oder waren arbeitsunfähig. Letztlich gab es damit etwa 1,7 Millionen Arbeitslose, die Bürgergeld im Regelsatz als Einzelperson (506 Euro plus Zuschuss für Unterkunft und Heizung in Höhe von 544 Euro bei einem 2-Personen-Haushalt) erhalten haben. Warum diese 1,7 Millionen Menschen zwar grundsätzlich als erwerbsfähig gelten, aber dennoch auf einem gerade nur existenzabsichernden Einkommensersatz des Bürgergeldes verharren, weiß niemand wirklich. Außer den Standardmerkmalen wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschlüsse, genereller Arbeitsunfähigkeit werden in der Arbeitsmarktstatistik keine detaillierten Informationen, z. B. über den Gesundheitszustand, festgehalten. Wir können auch nicht eindeutig vorhersagen, wie viele dieser arbeitslosen Menschen tatsächlich bei Leistungskürzung oder Anreizverstärkung in Arbeit kämen. Wenn wir uns jedoch die Qualifikationsmerkmale dieser Gruppe ansehen, haben ca. 66 Prozent der arbeitssuchenden Bürgergeldberechtigten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Damit wird klar, dass diese Gruppe auch wenig mit den vielen Jobangeboten für Fachkräfte zu tun hat und auch kaum einen Beitrag zur Lösung des Fachkräftemangels leisten wird. Die Diskussion um die Kürzungen des Bürgergelds, das eigentlich bereits am Existenzminimum angesetzt ist, wird keines der zentralen aktuellen ökonomischen Probleme in Deutschland lösen.
Was die Solidarität angeht: Wir haben in den letzten drei Jahrzehnten eine merkliche Verstärkung der Einkommensungleichheit beobachtet. Polarisierung hat nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch stattgefunden. Laut OECD ist in vielen westlichen Demokratien das Verhältnis der verfügbaren Einkommen der obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher*innen zu den untersten zehn Prozent der Einkommensbezieher in den letzten 25 bis 30 Jahren deutlich angestiegen. Das bedeutet konkret, dass die reicheren Haushalte heute nicht mehr nur dreimal so viel Einkommen haben wie die armen Haushalte, sondern je nach Land vier- bis sechsmal so viel. Man kann wohl die aktuelle Diskussion zum Bürgergeld am ehesten aus der jeweiligen ideologischen Perspektive der unterschiedlichen Parteien verstehen. Ideologie ist aber kein guter Ratgeber.“
Steuern auf Überstunden sollen ebenso wie etwaige Solidaritätszuschläge entfallen und die Unternehmensteuer sinken. Wie groß wäre bei so einer Maßnahme die tatsächliche Steuerentlastung und wie attraktiv sind Aspekte der Unternehmensbesteuerung für die Wähler*innen?
Prof. Dr. Jens Müller: „In 2023 haben Arbeitnehmer*innen im Schnitt 13,2 bezahlte Überstunden geleistet. Die Bedeutung einer steuerlichen Entlastung hängt somit stark von der Anzahl der persönlichen bezahlten Überstunden und der Höhe der gesamten Einkünfte ab. Inwieweit diese Maßnahme zu einer dauerhaften Erhöhung des Arbeitsangebotes führt, ist jedoch fraglich, da Überstunden bestenfalls kurzfristig strukturelle Schwächen und Fachkräftemangel abmildern. Die meisten Wähler*innen zahlen nach der Reform der Ampelregierung wegen der eingeführten Freibeträge bereits keinen Solidaritätszuschlag mehr. Strukturell wäre es ohnehin zu begrüßen, den Solidaritätszuschlag gänzlich aufzuheben. Die Besteuerung von Unternehmen mag für viele Wähler*innen eher abstrakt wirken, da der unmittelbare Vorteil für sie nicht klar ersichtlich ist. Dennoch könnte eine Reduzierung von Unternehmensbesteuerung auf Zustimmung stoßen, wenn sie sich positiv auf Arbeitsplatzschaffung, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Standorts auswirkt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass kritische Wähler*innen sie als einseitige Unterstützung für große Unternehmen wahrnehmen.”
Investitionen in Zukunftstechnologien betrachten viele Parteien als wichtiges Instrument, um die deutsche Wirtschaft im weltweiten Vergleich wieder weiter nach vorne zu bringen. In welchen Branchen ist die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft besonders vielversprechend?
Prof. Dr. Kirsten Thommes: „Die Benennung konkreter Branchen oder konkreter Innovationen ist schwierig und ich bezweifle, dass einzelne Personen – Wissenschaftler*innen oder Politiker*innen – in der Lage sind, die Zukunft vorherzusehen. Sollten wir in Medizintechnik investieren oder lieber in Automotive – die Bewertung ist komplex und vermutlich stark von persönlichen Präferenzen geprägt. Daher halte ich es grundsätzlich für besser, die unternehmerischen Bedingungen insgesamt zu verbessern, statt einzelne Technologien oder Branchen zu fördern. Die Politik sollte sich meines Erachtens auf die staatlichen Aufgaben konzentrieren und ausreichend Fachkräfte ausbilden, Infrastruktur bereitstellen oder auch Rahmenbedingungen für Investitionen verbessern.
Aus meiner Sicht benötigen wir eine politische Weichenstellung, die eine Stärkung von Zukunftstechnologien in Deutschland und Europa ermöglicht. Dies betrifft zum einen natürlich den Bildungssektor, in dem wir auch im innereuropäischen Vergleich in der Fläche nicht mehr gut dastehen. Zum anderen betrifft das aber auch variable Kosten wie Personalkosten für die Arbeitgeber*innen, insbesondere die sehr hohen Lohnnebenkosten. Am Beispiel von KI als Zukunftstechnologie sehen wir, dass zwar an vielen Stellen mehr Investitionen durch die öffentliche Hand und Unternehmen gefordert werden, gleichzeitig aber die Investitionsbedingungen durch hohe Kosten und starke Regulierung so unattraktiv werden, dass es sehr schwer wird, gegen Asien oder Nordamerika zu bestehen. Hinzu kommt sowohl ein gesellschaftliches als auch ein regulatives Umfeld, das Unternehmertum und innovative Start-ups zu wenig fördert und wertschätzt.“
In vielen Bereichen wird die deutsche Bürokratie kritisiert und ein Abbau gefordert – zum Beispiel, um Unternehmen von zusätzlichen Kosten zu entlasten. Wie umfangreich müssten die bürokratischen Anforderungen zurückgefahren werden, um positive Effekte beim BIP spüren zu können?
Prof. Dr. Caren Sureth-Sloane: „Unsere Forschung zeigt, dass z. B. die zunehmende Komplexität des Steuersystems Unternehmen – vor allem kleineren und mittleren – schadet und zu höheren Kosten führt, z. B. höheren Personalkosten im Bereich Besteuerung. Es wird auch deutlich, dass Unternehmen in der Folge weniger investieren und weniger wettbewerbsfähig sind. So zeigt sich, dass in Staaten, die weniger komplexe steueradministrative Prozesse bieten, bis zu 8 Prozent mehr in Innovationen investiert wird und diese Länder zudem deutlich mehr ausländische Direktinvestitionen anziehen.“