Paderborn/Bünde, 16.03.2015. Was passiert eigentlich mit Jugendlichen ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt? Im Rahmen des Projekts „Neugestaltung von Lernprozessen an Berufskollegs“ (NeGeL)initiierten die Wirtschaftspädagogen der Universität Paderborn unter Leitung von Prof. Dr. F.E. Sloane einen “Wilde Kerle“ genannten Workshop, der Ende Februar am Erich-Gutenberg-Berufskolleg im ostwestfälischen Bünde stattfand. Im Mittelpunkt der von zwei weiteren Berufskollegs aus Lemgo (Lüttfeld-Berufskolleg) und Gütersloh (Reinhard-Mohn-Berufskolleg) mitgetragenen Veranstaltung standen wissenschaftliche Untersuchungen und ein Erfahrungsaustausch über eigentlich chancenlose Schüler, die sich den Erziehungsbemühungen ihrer Lehrer erfolgreich entziehen. Ein erster Erfahrungsaustausch zeigte, dass man innerhalb des „Selbst regulierten Lernen-Konzepts“ (SRL) mit dem Projekt NeGeL auf dem richtigen Wege ist: Die „Wilden Kerle“ lassen sich zähmen.
Mit zehnjähriger Entwicklungsarbeit und Erfahrungen im Bereich SRL haben sich die Paderborner Wirtschaftspädagogen bundesweit eine führende Position erarbeitet. Prof. Sloane und Team, die das Projekt gemeinsam mit Rüdiger Bockhorst von der Reinhard-Mohn-Stiftung und Heinz Hundeloh von der Unfallklasse NRW tragen, umreißt das zu lösende Problem: „Junge Männer werden im Vergleich zu Mädchen immer leistungsschwächer im Unterricht“ und er stellt Fragen: „Passen die Anforderungen der Schule an den Schüler nicht? Welche Rolle spielt das soziale Milieu? Der Migrationshintergrund? Die augenfällige Feminisierung des Lehrkörpers und der Lehrinhalte? Hat die Verweigerungshaltung bei ‚passiven Mädchen’ dieselben Ursachen wie bei den wilden Kerlen? Wo stehen wir? Was muss sich ändern? “ Die Grundidee für den Workshop mit den drei Berufskollegs formuliert er so: „Jede Schule ermittelt ihre dringendsten Probleme im Zusammenhang mit dem Selbstregulierten Lernen.“
Wilde Kerle leben in schwierigen Lebenssituationen
Dabei traf es sich günstig, dass sich mit dem EGB Bünde und Schulleiterin Afra Gongoll samt Team eine hoch motivierte Lehrerschaft engagierte, die bereit war, sich selbst auf den Prüfstand zu stellen, alte Zöpfe abzuschneiden und gemeinsam mit den Wissenschaftlern der Universität Paderborn neue Wege zu gehen. Gemischte Workshop-Teams aus den drei Berufskollegs beantworteten im ersten Schritt Fragen wie: „Was sind eigentlich die Wilden Kerle, welche Ursachen hat ihr Auftreten, wie können sie in den Unterricht integriert werden, was machen sie aus den Lehrkräften?“ Die Antworten der Teilnehmer gaben einen interessanten Mix aus Erfahrungen und Einschätzungen vieler Situationen, die mit den Jugendlichen täglich erlebt werden: Schwierige Familienverhältnisse, Perspektivlosigkeit, Profilierungsbedürfnisse, Motorische Störungen, Regelverstöße, Unterrichtsstörungen, Verunsicherung, mangelnde Erfolgserlebnisse, falsche Vorbilder, Aggressivität.
Neue Lernformen fördern die Integration
Die Pädagogen der Berufskollegs gaben auch erste Antworten, wie mit den Jugendlichen umzugehen sei und öffneten die Türen zur Verhaltenspsychologie: Positive Erfolgserlebnisse vermitteln, Vernetzung mit anderen Gruppen, Regeln vereinbaren, Verantwortung übertragen und Aufgaben stellen. Dabei setzt man auf eine massive Umorganisation des Unterrichts, Störer sollen dabei zu Beratern für ihre Mitschüler werden und in die Prozesse hineingezogen werden, für die sie nun plötzlich selbst Regeln erstellen und überwachen müssen. Sloane: „Wir setzen Ziele, fordern die ‚Wilden Kerle’ heraus und geben ihnen eine produktive Bühne.“ Im kreativen Miteinander diskutierten die Vertreter der drei Berufskollegs unter Moderation der Paderborner Wissenschaftler und zeigten anhand von vormals aufgezeichneten Videos über die Lerngruppen typische Verhaltensweisen und geschlechtsspezifische Rollenspiele, die den ca. 50 anwesenden Lehrern wertvolle Hinweise für weitere Maßnahmen gaben. Dabei kamen bereits laufende Maßnahmen wie auch neue Ideen zur Sprache.
Paderborner Lerntableau: geeignetes Diagnosetool
Um dem Ganzen eine seriöse wissenschaftlich fundierte Basis zu geben, wendet man dabei das „Paderborner Lerntableau“ an, ein Online-Fragebogen des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik der Universität Paderborn. Dieses Reflexionsinstrument wird von den Schülern eingesetzt und dient der Selbsteinschätzung der schulischen Selbstregulationsfähigkeit. 60 Fragen sollen Auskunft über die Lerngewohnheiten geben. Zudem werden die dort ermittelten Ergebnisse mit den jeweiligen Halbjahresergebnissen (Noten!) konfrontiert. Wichtig erschien vielen der anwesenden Pädagogen auch die Einführung eines konsequent angewendeten Regelkatalogs bei Verstößen und weiteren „klassischen“ Sanktionen wie z.B. Einzug von Smartphones, Nacharbeiten und auch Fegedienst mit dem Hausmeister. Die Einführung einer „Reflexionsstunde“ mit Engagement der selbst organisierten „Lernberater“ und „Lernfachexperten“ soll im Wochenrückblick noch einmal auf alle wesentlichen Ereignisse Bezug nehmen. Heftig diskutiert wurde auch die Einführung eines geschlechtergetrennten Sportunterrichts, um die gegenüber den Jungs eher zurückhaltend agierenden Mädchen nicht zu frustrieren. Ein „Playparc“ mit modernen Sportgeräten auf dem Schulgelände soll zum allgemeinen „Dampfablassen“ der Schüler dienen.
Videounterstützung in den Lerngruppen
Eine der wichtigsten Maßnahmen schien den Lehrern aber die Videoaufzeichnung innerhalb der Lerngruppen zu sein, natürlich mit dem Einverständnis der Akteure. Denn darüber lässt sich die Wirkung ergriffener Maßnahmen direkt messen und auch rasch korrigieren. Bei aller Kreativität und Fülle der diskutierten Maßnahmen, die der besseren Integration der „Chancenlosen“ dienen, kommt es in erster Linie auf das Engagement der Lehrer an, das wurde auch in den Abschlussstatements der Pädagogen deutlich, einhellige Meinung: „Wir müssen uns dazu entscheiden, etwas zu ändern und sollten die vorgeschlagenen Maßnahmen individuell anwenden.“
Potenzial der „Chancenlosen“ dem Arbeitsmarkt zuführen
EGB-Schulleiterin Afra Gongoll bedankte sich bei allen Anwesenden und vor allem bei den Paderborner Wissenschaftlern für ihre Präsentationen und immer wieder neuen Ideen: „Ich freue mich, wenn aus all diesem Impulse in die Arbeit auch der anderen Berufskollegs einfließen.“ Moderator Prof. Dr. Sloane zog eine nachdenkliche, gleichfalls positive Bilanz: „Wir müssen sehen, dass diese Schüler, die zu uns kommen, weitgehend gescheiterte Schulexistenzen sind. Mit dieser Art des selbst organisierten Lernens läuft der Unterricht erheblich effizienter ab und wir alle sind sehr zuversichtlich, dass wir einen gangbaren Weg gefunden haben, diese jungen Menschen nach notwendigen Korrekturen einigermaßen sicher ins Arbeitsleben überführen zu können.“