Paderborn, 4.12.2015. Aufbruchstimmung im Department 5 beim Kompetenzteam um Prof. Dr. H. Hugo Kremer, der mit Unterstützung von Dr. Petra Frehe, Marie-Ann Kückmann und Heike Kundisch beim neuen Projekt „3i“ den Kurs angibt. Mit im Boot sitzen Ute Wohlgemuth vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW und Vertreter zahlreicher Berufskollegs aus NRW.
Individuelle Förderung, Integration und Inklusion sind drei Schlagworte, die aktuell die Arbeit der Berufskollegs bestimmen. Mit dem InBig-Nachfolgeprojekt haben es sich die Paderborner Bildungsexperten auf die Fahnen geschrieben, die Berufskollegs bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgaben tatkräftig zu unterstützen. 3i steht für: „Professionelle Bildungsgangarbeit zur individuellen Förderung, inklusiven Bildungsarbeit und sozialen Integration.“ Worum es dabei geht, skizziert Prof. Kremer: „3i qualifiziert jeweils standortspezifisch über das Format einer Kollegialen Qualifizierung alle didaktisch-pädagogisch Handelnden im Berufskolleg – Lehrkräfte, Sozial- und Sonderpädagogen, Werkstattlehrer und Psychologen. Eine Innovationsarena unterstützt BK-übergreifend und verdichtet gesammelte Erfahrungen und Erkenntnisse zur Nutzung aller Beteiligten. Schwerpunkte bei unserem Vorgehen liegen in der Stärkenorientierung bzgl. einer heterogenen Zielgruppen und in multiprofessioneller Teamarbeit der Lehrkräfte (mpT).“
Umdenken ist gefordert
Bei der Fachtagung am 26./27.11.2015 in Soest leitete Kremer in seiner Einführung den Inklusionsbegriff aus dem Gegensatzpaar „Exklusion – Separation und Inklusion – Integration her unter der These: „Inklusion heißt Systemveränderung“. Wie bei einer geschlechtergemischten Fußballmannschaft könne man ein effizientes Team nur durch Regelveränderung aufstellen, „das wird grundsätzlich ein anderes Spiel sein“. Der derzeit beherrschende gesellschaftliche Diskurs um Integration und Inklusion zwinge zum Umdenken und zum Abschneiden alter Zöpfe. Dabei fühlen sich die Berufskollegs durchaus unterschiedlich aufgestellt: „Inklusion haben wir schon lange“, postulierten die einen Lehrkräfte, „Inklusion kann von den BKs nicht geleistet werden“, sagten die anderen. Tatsächlich werde derzeit versucht, Inklusion ins bestehende, strukturell nicht inklusiv ausgerichtete Berufskollegsystem einzupassen. Fazit: „Eine echte Inklusion mit den derzeitigen Systemen führt zu Brüchen!“
Multiprofessionelle Teamarbeit: Schlüssel zum Erfolg?
Marie-Ann Kückmann, die sich von wissenschaftlicher Seite her den Themen multiprofessionelle Teamarbeit und Inklusion widmet, beschrieb die Berufskollegs als heterogene Systeme, deren Umfang durch die aktuelle Inklusionsdiskussionen zunehmen werde und deutete bereits eine Lösung an: „multiprofessionelle Teamarbeit kann die Implementation von Inklusion in die BK-Systeme wirksam unterstützen!“ Diese verlaufe u. a. im Spannungsfeld von Aktivität vs. Reaktivität, Kontinuität vs. Diskontinuität und (multiprofessionelle) Kooperation vs. (multiprofessionelle) Koordination. Die Frage für die künftige Zusammenarbeit im Projekt laute aus ihrer Sicht: „Können sich die unterschiedlichen Professionen wirksam unterstützend im Team einbringen?“
Prof. Kremer nahm diesen Faden auf und forderte eine klare Bestimmung der Rollen und Erwartungshaltungen der BK-Teams und problematisierte dies: „Ist es möglich, dass z.B. ein Sozialarbeiter auch Bildungsgangleiter werden kann?“ 3i werde, so seine Einschätzung, die Problematik vor Augen führen und Lösungswege aufzeigen!
Ausbildungsvorbereitung als zu profilierender Bereich am Berufskolleg?
Dr. Petra Frehe, verantwortliche Mitarbeiterin für Projektleitung und -koordination, fasste in ihrem Beitrag die Aufgaben der Ausbildungsvorbereitung (AV) zusammen und betonte deren hohen Stellenwert: „Die Ausbildungsvorbereitung im derzeitigen Zustand verfolgt hohe und teilweise divergente Zielsetzungen: Es geht um eine Reparatur- und Nachqualifizierungsfunktion und gleichzeitig um eine berufliche Qualifizierungsfunktion. Aufgabe ist es dabei, sowohl den Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu werden als auch die Bedürfnisse des / der einzelnen Lernenden aufzunehmen. Lehren und Lernen findet demnach in Spannungsfeldern statt. Für diese Aufgabe sind Lehrende aus- und weiterzubilden. Die Projektgruppe diskutiert in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Ausbildungsvorbereitung als eigenständiger Bereich beruflicher Bildung zu profilieren ist, der möglicherweise auch eine eigenständige Didaktik mitführt.
Danach kamen die Vertreter der Berufskollegs zum Zuge und stellten in einer „didaktischen Messe“ ihre Situation, Wünsche und Zielvorstellungen dar. Dabei wurde einmal mehr deutlich, wie unterschiedlich die Positionen und Erwartungen sind. Für Prof. Kremer die klare Bestätigung, dass man mit der bereits beim Projekt InBig geforderten Individualisierung und dem aktuell von den Wissenschaftlern empfohlenen regionalspezifischen Handling der Aufgaben richtig liege. Parallel zu der Fachtagung und teilweise darin eingebettet fand unter der Leitung und Moderation von Heike Kundisch ein zweitägiger Workshop der kollegialen Qualifizierung für Bildungsganggestalter statt. Die kollegiale Qualifizierung unterstützt die Vertreterinnen und Vertreter der Berufskollegs bei der Erfüllung ihrer Rolle als Gestalter in ihrer Bildungsgangarbeit und bereitet sie auf die Umsetzung der individuellen Projekte in der Ausbildungsvorbereitung vor. Der moderierte kollegiale Austausch als Merkmal der Qualifizierung lässt die Bildungsgangteams über ihren Tellerrand schauen und fördert den Transfer von Wissen und Umsetzungsideen über die Grenzen der Berufskollegs hinaus. Neben der Vermittlung von Inhalten zu Themen wie Projektmanagement, Lehrergesundheit oder Teamentwicklung etc., hat die kollegiale Qualifizierung für Bildungsganggestalter ein fortbestehendes Netzwerk der Berufskollegs zum Ziel.
Siehe auch: http://cevet.eu/forschung/aktuelle-projekte/3i/
Interview mit Ute Wohlgemuth, Referatsleiterin Abtlg. Berufliche Bildung (Ausbildungsvorbereitung) im Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen
3i: win-win für alle!
? Frau Wohlgemuth, was erwarten Sie sich vom Projekt 3i?
Ute Wohlgemuth: Nach dem sehr erfolgreichen Abschluss des InBig-Projekts war uns klar, dass wir unser Ziel der Optimierung der Berufskollegarbeit weiter verfolgen müssen. Die Paderborner Wissenschaftler haben mit ihren Ideen und Konzepten Bewegung in die Szene der Berufskollegs gebracht, und das ist angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung auch dringend nötig.
? Können Sie die von Ihnen genannten Ziele etwas mehr konkretisieren?
Ute Wohlgemuth: Sehr gerne! Zunächst einmal ist es wichtig, dass wir Jugendlichen mit sonderpädagogischem Hintergrund viel mehr Unterstützung geben. Dazu müssen wir die Lehrkräfte, aus welchen Disziplinen sie auch kommen, weiter professionalisieren. Die Expertise der Wissenschaft aus Paderborn ist uns dabei hoch willkommen. Allen Beteiligten tut es gut, den „Hauch der Wissenschaft“ bei der täglichen Arbeit zu spüren! Zudem müssen wir bis Ende 2016 auch in den Berufskollegs die Inklusion verwirklicht haben. Wir suchen natürlich die Lösungen, aber jetzt geht es erst einmal um die Wege dahin. Prof. Kremer und sein Kompetenzteam zeigen auf, wie wir das angehen können und dabei gleichzeitig die Schulen motivieren und mitnehmen.
? Sie engagieren sich stark bei und für 3i, unter anderem auch als Mitglied des Beirats. Warum?
Ute Wohlgemuth: Das Projekt 3i hat bei uns im Ministerium in der Tat einen hohen Stellenwert, auch für unser Vorhaben „Kein Abschluss ohne Anschluss“ , das den Übergang von der Schule in den Beruf für a l l e Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt. Denn wir müssen überlegen, wie wir allgemein die gesellschaftliche Teilhabe gestalten können. Es ist uns klar, dass wir damit eine „win-win-Situation“ für alle, also auch für unsere Wirtschaft, herstellen können.
? Welche alten Zöpfe müssen aus Ihrer Sicht in den Berufskollegs abgeschnitten werden?
Ute Wohlgemuth: Bevor wir die abschneiden, müssen wir uns kritische Fragen stellen: Wie steht es generell mit der interkulturellen Kompetenz unserer Lehrkräfte? Wie steht es mit der Sprachförderung? Ist eine durchgängige Sicherstellung der Fachlichkeit gewährleistet? Da gibt es einen großen Diskurs innerhalb unseres Ministeriums unter der zentralen Fragestellung: Was müssen unsere Lehrkräfte mitbekommen, um mit den aktuell geänderten Zielgruppen adäquat umgehen zu können?
? Was tut das Ministerium für Schule und Weiterbildung konkret dafür?
Ute Wohlgemuth: Dafür gibt es viele Beispiele. Allein im Haushaltsjahr 2015 hat das MSW 200 Stellen für Multiprofessionelle Teams als Ergänzung der pädagogischen Arbeit an den Berufskollegs zur Verfügung gestellt.. Dabei wählen die Schulen selbst, wie sie die Stelle besetzen wollen. Es können Lehrkräfte mit dem Lehramt Sonderpädagogik, dem Lehramt für das Berufskolleg, Werkstattlehrkräfte oder Technische Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. 2016 wollen wir weitere 100 Stellen dafür zur Verfügung stellen.
? Was wünschen Sie sich und den 3i-Projektbeteiligten?
Ute Wohlgemuth: Ich hoffe sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den Berufskollegs auch über das Projekt hinaus in Kontakt bleiben und sich weiter austauschen. Ein weiterer große Wunsch wäre, dass die bislang erlebte Freude an der Weiterentwicklung und am Umgang mit den benachteiligten Jugendlichen immer mehr Lehrkräfte in anderen Berufskollegs erfasst, wir wollen so viele wie möglich mitnehmen.
? Wie stellen Sie sich zur Forderung der Wissenschaftler nach einer Neubewertung der Ausbildungsvorbereitung?
Ute Wohlgemuth: Durchweg positiv. Nach meinem Dafürhalten soll die Ausbildungsvorbereitung ein wesentliches Element der allgemeinen Schularbeit werden, ich bin überzeugt, dass sie mittelfristig zu einem gleichberechtigten Bildungsgang heranwachsen wird. Und ich gehe noch weiter: Eigentlich müssten gerade dort unsere besten Pädagogen tätig werden.
? Wie bewerten Sie die Kooperation Ihres Hauses mit den Wirtschaftspädagogen der Universität Paderborn?
Ute Wohlgemuth: Wir setzen auf die Paderborner Wissenschaftler, weil diese in vielen bereits erfolgreich abgeschlossenen Projekten bewiesen haben, dass sie den richtigen Zugang zu den Berufskollegs schaffen können. Ich glaube, alle unsere Lehrkräfte, die täglich einen schwierigen Job bewältigen müssen, sind froh, wenn sie über die Projektbeteiligung die Chance haben, über den Tellerrand zu blicken und mit konkreten Anleitungen und Hilfestellungen in ihrer Alltagsroutine unterstützt werden. Da haben sich die Paderborner ein echtes Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Abschließend will ich dazu sagen: Das Land NRW bietet den Menschen mittlerweile so viele Möglichkeiten, weiterführende Schulabschlüsse zu erreichen. Da freuen wir uns natürlich über jeden, der uns dabei tatkräftige Unterstützung gibt.