Chronischer Fachkräftemangel ist in Deutschland ein Dauerproblem, das von Politik und Wirtschaft immer wieder neu angemahnt wird. Die Folge ist ein regional und mittlerweile global geführter Kampf um die besten Köpfe, der nur bedingt zu Lösungen und notwendig zur Verteuerung der knappen Ressource Arbeitskraft führt. Ein neuer Denkansatz der Paderborner Wirtschaftspädagogen Dr. Bernd Gössling und Marcus Flachmeyer vom Lehrstuhl von Prof. Dr. Peter F.E. Sloane ermöglicht Unternehmen nun die Nutzung bislang nicht ausgeschöpfter Ressourcen älterer Beschäftigter – mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Projekt „KomBiA“ (Kompetenzbilanzierung für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer).
Projektleiter Dr. Bernd Gössling erläutert das Vorhaben: „In den Fokus unserer Forschung rücken erfahrene Beschäftigte, die im Lauf ihrer Lebensarbeitszeit Kompetenzen erworben haben, die über ihre formale Qualifikation weit hinausgehen und bislang nicht objektiv festgestellt wurden. Durch die von uns entwickelten Tools wollen wird diese ungehobenen Schätze den Unternehmen als wertvolle Ressourcen zur Verfügung stellen und gleichzeitig Beschäftigten neue Perspektiven anbieten.“
Gössling weist darauf hin, dass gerade in Zeiten technologischer Innovationen und demographischen Wandels lebenslanges Lernen nicht auf formale Bildung begrenzt sein dürfe. Auch wenn Deutschland nach wie vor von einem stark ausgebauten Berufsbildungssystem profitiere, werde es immer wichtiger, die Ergebnisse informellen Lernens sichtbar zu machen, anzuerkennen und mit dem formalen Lernen zu verbinden. Tatsächlich zeigen bereits vorliegende Studien, dass eine Anerkennung und Zertifizierung von informell erworbenen Kompetenzen, die beispielsweise im Prozess der Arbeit außerhalb einer Berufsausbildung oder durch ehrenamtliches Engagement erworben wurden, die Motivation zum Weiterlernen erhöht. Das Problem: Es gibt in Deutschland bislang kein national geregeltes System zur Anerkennung von Lernergebnissen, die außerhalb organisierter formaler Bildung erworben wurden.
Auch wenn ein Großteil der Beschäftigten gerade in Branchen wie dem Anlagen- und Maschinenbau über eine formale Qualifikation auf hohem Ausbildungsniveau verfügt, ändern sich durch den organisationalen und technologischen Wandel – Stichwort „Industrie 4.0“ – die Anforderungen an die Beschäftigten. Hier herrscht klar ein Bedarf nach Kompetenzanalysen, die feststellen, inwiefern das vorhandene Kompetenzprofil noch zu den aktuellen bzw. zukünftigen Anforderungen passt und zu welchem Maß berufsrelevante Kompetenzen auch durch informelle Lernprozesse effektiv gefördert werden können.
Das Team rund um Gössling und Flachmeyer ist angetreten im Konsortium zusammen mit dem Freien Institut für Bildung, Forschung und Innovation e.V. – HeurekaNet wissenschaftlich begründete Tools zur Kompetenzfeststellung und -zertifizierung zu entwickeln, deren Wirksamkeit unter Praxisbedingungen genauer exploriert wird. Beide Wissenschaftler arbeiten bereits seit vielen Jahren an solchen Verfahren, die nun in Kooperation mit Unternehmen des Anlagen- und Maschinenbaus für betriebsspezifische Zwecke zur Anwendung kommen sollen. Der Wirtschaftspädagoge lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass dies nur in enger Kooperation mit betroffenen Unternehmen möglich ist. „Die bisherigen Erfahrungen mit Unternehmen, die bereits Teil des Projektnetzwerkes sind, zeigen, dass individualisierte Kompetenzanalysen auf großes Interesse stoßen. Zur Verbreiterung der Aussagekraft unserer Arbeiten suchen wir derzeit noch weitere, interessierte Unternehmen aus dem Anlagen- und Maschinenbau, mit denen wir unser Tool zur Kompetenzanalyse erproben und deren Personalsituation wir durch optimale eigene Ressourcenausnutzung verbessern können.“
Autor: Dr. Reinhard Schwarz
Foto frei zum Abdruck (R. Schwarz)