DIE BEZIEHUNGSEXPERTIN
Teil der Reihe "Junge Forscher*innen im Porträt – Wege in die Wirtschaftswissenschaften"
Ein Studium braucht soziale und emotionale Unterstützung, sagt die Wirtschaftspädagogin Dr. Juliane Fuge. Für die Akademische Rätin der Universität Paderborn gehen Wissensvermittlung, Mentoring und Selbstreflexion Hand in Hand und bilden in ihrer Kombination den Schlüssel für einen erfolgreichen Lehr- und Lernbetrieb.
Lehrst du noch oder berätst du schon? Für Dr. Juliane Fuge ist die Antwort klar. „Ohne eine zwischenmenschliche Komponente geht es nicht.“ Die Akademische Rätin forscht zum Thema Selbsterfahrung und -reflexion. Beratungsorientierte Lernsettings wie Coaching und Mentoring sind für sie essenzielle Werkzeuge, um Lernprozesse effektiv und individuell gestalten zu können. In einem erfolgreichen Studium gehe es schon lange nicht mehr nur um eine adäquate Wissensvermittlung der studienrelevanten Inhalte, sondern auch um die Entwicklung selbstbezogener und sozialer Kompetenzen. „Hierzu ist es hilfreich, sich immer wieder die Frage nach der Praxisrelevanz zu stellen: Wie sieht das „wahre Leben“ aus? Mit welchen Anforderungen werden die Studierenden später in ihrem angestrebten Beruf konfrontiert? Wie können Studierende und auch Lehrende lernen, mit zwischenmenschlichen Herausforderungen umzugehen?“ Fuges Antwort darauf klingt simpel: Reflexionsräume schaffen, professionelle Methoden und Interventionen der Gesprächsführung in der Lehre etablieren und konkret an Seminare anbinden. Immer im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen: der Mensch.
Für ihren persönlichkeits- und emotionsorientierten Ansatz und ihre Idee, Lernumgebungen als selbstreflexive und -erfahrungsorientierte Erprobungsräume zu gestalten, wurde Fuge mit dem Lehrpreis für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Universität Paderborn ausgezeichnet. Doch was heißt das konkret, Selbstreflexion im Studium? „In meinen Seminaren gebe ich den Studierenden grundsätzlich den Raum, zukünftige berufliche Anforderungen innerhalb von Rollenspielen oder mit anderen erlebnisorientierten Methoden zu erfahren und sich selbst dadurch besser kennenzulernen“, erläutert Fuge. Sie fügt nachdenklich hinzu, dass dieser nun preisgekrönte Ansatz anfangs nicht nur auf Begeisterung in Kollegen- und Fachkreisen stieß. Es habe kritische Nachfragen nach der Umsetzung und teils offenen Widerstand gegeben. Schließlich könne man Selbstreflexion nicht bewerten, sondern lediglich unvoreingenommene Rückmeldungen geben. Dass aber nicht nur der Vizepräsident für Studium, Lehre und Qualitätsmanagement, sondern auch das Preiskomitee der Universität ihrer innovativen Idee letztlich sehr wertschätzend gegenüberstanden, habe sie in ihrer Arbeit bestätigt.
Dass Fuge sich so intensiv für die Integration berufsbezogener Selbsterfahrungselemente in der Lehre engagiert, hat auch einen biografischen Hintergrund und ist ihr eine persönliche Herzensangelegenheit. „Eigentlich wollte ich immer Krankenschwester werden“, erinnert sie sich. Anstatt einer Ausbildung beginnt die gebürtige Erfurterin, die in einer klassischen Arbeiterfamilie aufgewachsen ist, nach dem Abitur jedoch ein Medizinstudium in Jena, das sie schon nach kurzer Zeit abbricht. „Ich war überfordert von der Stoffmenge und fühlte mich allein gelassen“, erinnert sich die Wirtschaftspädagogin. „Ich hatte mir das Studium ganz anders vorgestellt und hauptsächlich begonnen, weil man mir dazu geraten hatte, nicht, weil ich es wirklich wollte“, reflektiert Fuge rückblickend.
Sie folgt ihrem Gefühl, orientiert sich um und absolviert eine Lehre zur Bankkauffrau, die in ihr eine neue Faszination weckt: Das Interesse für die Aufgaben der Lehrkräfte jenseits der reinen Wissensvermittlung. Sie wagt erneut den Schritt an die Friedrich-Schiller-Universität in Jena. „Heute kann ich ganz klar sagen, dass mir die Ausbildung den weiteren Weg erleichtert hat.“ Trotzdem verläuft auch Studium Nummer zwei zunächst nicht reibungslos. Wieder erweist sich die Studieneingangsphase als tückisch, doch sie macht weiter. „Ich habe quasi am eigenen Leib erfahren, wie schwer der Übergang an die Universität sein kann und welche Bedeutung Mentor*innen und Lehrende für den eigenen Werdegang haben.“ Fuge spricht offen über diese Zeit und das anfängliche Scheitern im universitären Betrieb.
„Natürlich hätte ich mit meinem pädagogischen Abschluss an einer Berufsschule lehren können“, erklärt Fuge. Doch sie entscheidet sich bewusst, den akademischen Weg weiter zu gehen – mit all seinen strukturellen Herausforderungen. Dazu gehöre nicht nur die oft ungleiche Verteilung bei den Aufstiegschancen oder die kritische Betrachtung der eigenen Forschung von außen, sondern auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nach zwei Jahren in Bonn, wo sie zwischenzeitlich ihre Promotion abschließt, sei die Rückkehr in die westfälische Kleinstadt ein bisschen wie Nachhausekommen gewesen. „Paderborn ist eine sehr familienfreundliche Stadt, auf die Menschen hier kann man sich zu 100 Prozent verlassen.“ Dies sei letztlich auch ein ausschlaggebendes Kriterium für die Wahl ihres Arbeits- und Wohnortes gewesen. Fuge, die verheiratet und Mutter zweier Söhne ist, betont, wie zeitintensiv eine wissenschaftliche Karriere ist. „Ohne die großartige Unterstützung des Elternservicebüros wäre vieles deutlich schwieriger gewesen.“ Ihr damaliges Kindermädchen, eine Studentin, ist heute die Patentante ihres jüngsten Sohnes.
Für das Vertrauen ihres Doktorvaters, sie auf dem weiteren wissenschaftlichen Weg zu unterstützen, ist Fuge heute noch dankbar, die mittlerweile an ihrer Habilitation arbeitet. Seit 2016 beschäftigt sie sich intensiv mit der Erforschung und Integration berufsbezogener Selbsterfahrungsräume sowie der Weiterentwicklung des Peer-Mentoring-Programms innerhalb der Hochschullehre. Damit sie ihre Lehrkonzepte weiterentwickeln und professionell umsetzen kann, bildet sie sich selbst regelmäßig fort und hat inzwischen eine Weiterbildung in psychodynamischer Organisationsentwicklung und Coaching sowie personenzentrierter Gesprächsführung absolviert. Sie geht nicht den klassischen, sondern ihren ganz eigenen Weg.
„Ich habe mich entschieden, diesen Weg ernsthaft zu gehen, um etwas in der beruflichen Lehrpersonenbildung verändern zu können. Dabei geht es mir um die Inhalte und weniger um den akademischen Titel“, stellt Fuge bestimmt klar. Natürlich sei sich aber darüber im Klaren, dass es letztlich auch ihr akademischer Grad sei, der ihr neue Möglichkeiten verschaffe und Türen öffne, die ansonsten verschlossen bleiben.
Eine dieser Möglichkeiten hat Fuge im auslaufenden Wintersemester eindrucksvoll umgesetzt: Die erste Veranstaltungsreihe der von ihr initiierten Ringvorlesung zum Thema „Beziehungsräume gestalten“. In insgesamt neun Veranstaltungen mit Redner*innen verschiedener Disziplinen aus Theorie und Praxis konnte Fuge das vielfältige Spektrum zwischenmenschlicher Beziehungen in digitalen und agilen Arbeitswelten aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die abschließende Podiumsdiskussion wird am 04. Mai im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Universität nachgeholt. Obwohl die Ringvorlesung auf große Resonanz bei Vortragenden, Studierenden und interessierten Gasthörer*innen gestoßen und gerade erst erfolgreich zu Ende gegangen ist, denkt Fuge schon über eine Fortsetzung nach. Sie sei zufrieden mit dem Verlauf der Reihe, die aufgrund der andauernden pandemischen Lage teils in hybrider Form stattgefunden hat. „Wir haben insgesamt tolles Feedback bekommen, es gab viel Lob für die Programmkonzeption und die Idee. Und es war schön, den einen oder anderen Wiederholungstäter im Publikum auszumachen“, schmunzelt Fuge, „aber ich möchte das Format zukünftig noch etwas modifizieren.“
Fuge hat auch hier eine klare Vision. „Ich möchte zukünftig mit der Veranstaltungsreihe Raum für Reflexionsgespräche eröffnen, in dem sich die Anwesenden nicht nur über Beziehungsfragen und -themen in unterschiedlichen Kontexten austauschen, sondern in einen moderierten Dialog auf Augenhöhe treten und miteinander in Kontakt kommen können.“ Sie möchte keine Vorlesung mehr, sondern stelle sich ein offenes Gesprächsformat vor. „Meine Idee ist es, einen Raum zu schaffen, in dem Studierende, Lehrende und weitere Interessierte sich auf Augenhöhe begegnen und in direkten Kontakt treten können“, erläutert die Wissenschaftlerin ihr Konzept weiter. Dass sich diese Idee noch nicht vollständig umsetzen ließ, liege vor allem an der pandemischen Situation und der teilweisen Verlegung der Veranstaltung in den digitalen Raum, die Lehrende und Studierende gleichermaßen vor neue Herausforderung gestellt habe.
Ob ihre Vorgehensweise ein Alleinstellungsmerkmal sei? Fuge bleibt bescheiden. Erlebnis- und handlungsorientierte Methoden wie Fantasiereisen und Rollenspiele seien keine neue Erfindung. „Sie sind in der beruflichen und auch in der Erwachsenenbildung bekannt, werden jedoch in der Hochschullehre bisher eher selten eingesetzt. Mit der konsequenten Umsetzung eines ganzheitlichen Ansatzes und der Arbeit auf der Beziehungsebene in all ihren Veranstaltungen nehme ihr Konzept schon eine Vorreiterrolle ein“, zeigt sich Fuge stolz.
„Wenn ich in meinen Seminaren mit theaterpädagogischen Übungen und Rollenspielen arbeite, dann spielt auch die nonverbale, rein körperliche Kommunikation eine entscheidende Rolle.“ Man dürfe nicht nur über die Bedeutung und Funktionen von Beziehungen reden, man müsse sie auch erfahren und reflektieren.
Dass während der Pandemie viele Vorlesungen und Seminare in digitale Konferenzräume verlegt werden mussten, habe zwar neue Wege und Betrachtungsweisen eröffnet. Es habe sich aber auch eine akute Forschungslücke im Hinblick auf remote Coaching und Beratung aufgetan. Und schließlich sei es schon live vor Ort eine Herausforderung, selbstreflexive Übungen in einem vollbesetzten Hörsaal mit über 200 Leuten durchzuführen. „Wenn man zu Hause ist, steht man auch vor der Aufgabe, die private Umgebung auszublenden.“ Ihr sei es in digitalen Seminaren nicht anders ergangen. Man müsse sich den Rahmen bewusst machen, sich selber beobachten. „Ich musste mich selber dahingehend überprüfen, meinen Kindern einerseits klarzumachen, dass ich zwar zu Hause, aber trotzdem gerade nicht verfügbar bin“, erläutert Fuge nachdenklich. Klare Grenzen seien deshalb wichtig, in die eine wie die andere Richtung: „Ich bin mit ganzem Herzen Mama. Gleichzeitig liebe ich meine Arbeit und Themen. Es ist eine große Herausforderung im Wissenschaftssystem sich selbst treu zu bleiben, vor allem wenn man nicht dem Mainstream der Forschung folgt“, sagt Fuge. Sie zeigt stolz eine selbstgebastelte Zeichnung von Ritter Rost, die ihre Söhne zur Verschönerung des Büros angefertigt haben.
Was das für die Fortsetzung der Ringvorlesung und ihre Lehrveranstaltungen bedeutet, macht Fuge unmissverständlich klar. Trotz aller Auseinandersetzung auch mit positiven Aspekten von Online-Formaten: Für Fuge ist und bleibt der direkte Kontakt im Seminarraum insbesondere für die Förderung sozialer und personaler Kompetenzen unersetzlich.
Keine akademischen Titel oder Hierarchien, nur Menschen im gemeinsamen Austausch. Es sei auffällig gewesen, dass sich vor allem Studierende in der Ringvorlesung kaum getraut hätten, Fragen zu stellen. Zu groß seien der Respekt und die Sorge, vor anderen Kommiliton*innen oder Dozierenden nicht die richtigen Worte zu finden. „Deswegen geht es nicht nur darum, das Peer-Mentoring-Programm zu fördern, in dem Studierende selber Kleingruppen betreuen.“ Man müsse auch stärker die Ausbildung der beruflichen Lehrkräfte verändern. „Zu lernen, gleichzeitig in Kontakt mit sich selbst und den Schüler*innen zu sein, ist keine leichte Aufgabe, aber sie ist essenziell für die Entwicklung zwischenmenschlicher Professionalität.“ Einander wertschätzend und einfühlsam zu begegnen sei eine Haltung, die sich nicht mal eben so in wenigen Wochen erlernen lasse, sondern regelmäßig erlebt und verinnerlicht werden muss. „Man muss sich den Erfahrungsunterschied bewusst machen und sich von Mensch zu Mensch begegnen.“
Wie das in der Praxis aussieht? „Ich frage die Leute zum Beispiel gerne, welches Tier sie wohl wären.“ Das breche oft das Eis und baue von Anfang an Hemmungen ab. Die abschließende Frage liegt förmlich auf der Hand: Welches Tier ist Juliane Fuge? Die Wissenschaftlerin lacht und muss lange überlegen. „Tatsächlich hat mir die Frage bisher niemand gestellt, aber das ist natürlich berechtigt und spannend.“ Nach einer weiteren Denkpause kommt sie zum Schluss, dass es ein Tier sein muss, welches in Gemeinschaften lebt: ein Kaninchen. „Die werden unterschätzt. Dabei sind sie nicht nur ängstlich, sondern auch klug, kommunikativ und gesellig. Ich wäre wohl ein Kaninchen und hätte gern die Weisheit einer Eule.“
Text: Christina Görkes