DER MUTMACHER
Teil der Reihe "Junge Forscher*innen im Porträt – Wege in die Wirtschaftswissenschaften"
Forschen muss Spaß machen, sagt Juniorprofessor Milad Mirbabaie. Der Wirtschaftsinformatiker will junge Menschen für die Wissenschaft begeistern – ganz gleich, aus welchem sozialen Hintergrund sie stammen. Ihn selbst faszinieren digitale Technologien, vor allem im Krisenfall.
Paderborn? Von der Stadt habe er noch gar nicht viel gesehen, gibt Milad Mirbabaie zu. Dabei arbeitet er nun seit fast einem Jahr hier: Seit April 2021 ist der 36-Jährige als Juniorprofessor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften beschäftigt. Doch Corona habe dafür gesorgt, dass er zwar die Universität mittlerweile recht gut kenne, „aber durch die Stadt bin ich noch viel zu wenig spaziert.“
Der Wirtschaftsinformatiker lehrt und forscht dort zum Thema Digital Society: Ihn fasziniert Technik und das schon von Kindheit an. Als Achtjähriger bekommt er von seinem Vater einen alten Computer geschenkt, schraubt daran herum, nimmt das Gerät auseinander und lötet neue Komponenten ein. „Aber noch mehr als die Technologie an sich fesseln mich heute die Effekte, die sie auf die Gesellschaft hat“, erklärt Mirbabaie. So untersucht er beispielsweise, welche ethischen Aspekte bei KI-Systemen berücksichtigt werden sollten, analysiert die Bedeutung von Digital Detox, also dem phasenweisen, bewussten Verzicht auf digitale Medien, oder erforscht, wie digitale Technologien bei der Diagnose von Krankheiten helfen können. Science that matters, Wissenschaft mit gesellschaftlicher Relevanz – dafür begeistert sich der junge Professor.
Der Höhepunkt seiner bisherigen Forschung sei deshalb die intensive Arbeit für seine Promotion gewesen, sagt er: Mirbabaie wertete dafür einige große Social-Media-Datensätze aus, um zu untersuchen, wie Menschen in Krisensituationen kommunizieren. Konkret ging es um Tweets, die 2016 kurz nach dem Terroranschlag in Brüssel von Tausenden von Nutzer*innen versendet wurden. Wer hatte die Meinungsführerschaft? Welchen Informationen gelang es, in die Breite zu dringen? Wie entstanden aber auch Falschmeldungen und verbreiteten sich? „Wenn wir besser verstehen, wie Menschen digitale Medien nutzen, können wir diese Kanäle optimieren“, erklärt Mirbabaie, dessen innovative Datenanalyse 2017 mit dem Claudio-Ciborra-Preis ausgezeichnet wurde. Bei Notfällen etwa könnten Hilfskräfte so besser koordiniert werden, gleichzeitig wäre die Bevölkerung zuverlässiger informiert. Doch der Wissenschaftler hat nicht nur einzelne Nutzer*innen im Blick: Er untersucht auch, wie die Digitalisierung auf ganze Gruppen, Organisationen oder Unternehmen wirkt.
Mirbabaie kommt aus Bremen an die Universität Paderborn: Die Hansestadt hatte ihn kurz nach seiner Dissertation als Vertretungsprofessor eingestellt, seine zunächst angetretene Postdoc-Stelle an der Universität Duisburg-Essen konnte er deshalb verkürzen. Klingt ganz nach einem wissenschaftlichen Durchstarter. Aber die akademische Laufbahn war für Mirbabaie keineswegs vorgezeichnet. Er liebt zwar das Forschen, kann sich nach seinem Studium in Hamburg zunächst aber auch vorstellen, in die Wirtschaft zu wechseln. 40 Bewerbungen schreibt er, an Hochschulen und Unternehmen gleichermaßen. Doch er erhält nur eine einzige Einladung: Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster bietet ihm eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an. Er nimmt sie an, ist dem dortigen Professor für die Chance noch heute dankbar – denn damit startet seine akademische Karriere.
„Ich hatte keine andere Wahl“, betont Mirbabaie heute dennoch. „Für mich hieß es: Promotion oder Hartz 4.“ Ihm liegt viel daran, auch über diesen Tiefpunkt seiner Laufbahn zu berichten – um heutigen Absolvent*innen Mut zu machen. Denn er könne zwar nicht nachweisen, dass er bei den anderen Stellen nur aufgrund seines Namens oder seiner Hautfarbe abgelehnt wurde. „Aber natürlich ist klar, dass Menschen wie ich immer wieder auch mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert werden.“ Die Chancen beim beruflichen Aufstieg seien nun einmal nicht fair verteilt – in der Wissenschaft genauso wenig wie in der Wirtschaft. Das beträfe nicht nur Deutsche mit Migrationshintergrund, sondern zum Beispiel auch Frauen und Kinder aus Arbeiterfamilien.
Auch Mirbabaies Eltern sind keine Akademiker*innen: Sie kommen als Einwanderer nach Hamburg. Er selbst ist damals fünf und spricht kein Wort Deutsch. Doch als Kind ist er fleißig, als Jugendlicher schnell unter den Jahrgangsbesten seines Gymnasiums. Seinen Leistungskurs in der Oberstufe besucht er deshalb zeitweise an einer Hamburger Nobelschule – und lernt dort schnell die Arroganz der gesellschaftlichen Eliten kennen. „Keine gute Erinnerung“, so Mirbabaie heute.
Umso wichtiger ist es ihm, in seiner eigenen Lehre alle Studierenden zu motivieren: Er sei zutiefst davon überzeugt, dass in jedem und jeder von ihnen ganz spezielle Stärken schlummern, erzählt er. Die eine sei vielleicht besonders stark im Präsentieren, der andere eher still, dafür aber ein genialer Programmierer und wieder andere würden durch ihre Managementfähigkeiten Projekte ideal vorantreiben. „Ich möchte, dass meine Studierenden entdecken, wo ihr Talent liegt, welche Themen sie begeistern und woran sie Spaß haben.“
Der Spaßfaktor sei ihm ohnehin wichtig in der Forschung, erklärt Mirbabaie. Schließlich helfe er beim Durchhalten. Bei seinen eigenen Projekten empfinde er die Arbeit mittlerweile nicht einmal mehr als Belastung, sondern meist als Bereicherung. Allerdings achtet er mittlerweile mehr auf einen pünktlichen Feierabend: Wann immer möglich geht er schon nachmittags nach Hause, um Zeit mit seiner zweieinhalbjährigen Tochter zu verbringen. „Ich möchte sie groß werden sehen und setze mich lieber abends, wenn sie im Bett ist, noch einmal an den Rechner, als das zu verpassen.“
Um auch den Studierenden den Spaß am Forschen zu vermitteln, bemühe er sich, seine Seminare und Vorlesungen so abwechslungsreich wie möglich zu planen, etwa indem er immer wieder über aktuelle Forschungsprojekte berichtet oder auf interessante Wissenschaftler*innen verweist. „Mir würde doch selbst langweilig, wenn ich Veranstaltungen nur nach Schema F abhalte“, sagt er. Absolvent*innen, die mit dem Gedanken spielen, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, möchte er vor allem Mut machen. „Wer sich für ein Fach oder Thema begeistert und genug Ehrgeiz und Fleiß mitbringt, sollte auf das eigene Talent und seinen Verstand vertrauen.“
Dass dennoch viele zögern, sei für ihn nur zu verständlich: Für Eingewandertenkinder etwa fehlten oft die Vorbilder, so Mirbabaie. Zwar sei die Vielfalt unter den Studierenden und Promovierenden gewachsen. Doch in der Professorenschaft tue sich noch viel zu wenig, sagt der Forscher. Allein in seinem Fachgebiet, der Wirtschaftsinformatik, kann er zum Beispiel die Deutschen mit Migrationshintergrund an einer Hand abzählen.
Die Offenheit der Universität Paderborn gefalle ihm deshalb sehr gut. Hier erhalte jede*r eine Chance, gleich welcher Herkunft. Er schätzt außerdem die innovative Ausrichtung der Hochschule, die enge Zusammenarbeit mit den Unternehmen der Region und auch den Gründergeist, der in den Wirtschaftswissenschaften herrscht. „Ich finde es toll zu sehen, wie viele junge, schlaue Köpfe hier an ersten Businessideen werkeln.“ Auch unter den Professor*innen sei der Teamgeist enorm hoch.
Sechs Jahre lang wird er zunächst hier arbeiten, dann entscheidet sich, ob ihm der Sprung in eine Langzeit-Professur gelingt – das wäre sein Traum. Dabei gab es durchaus Alternativen: Direkt nach seiner Dissertation bietet ihm ein großes deutsches Unternehmen eine lukrative Stelle an, unbefristet, extrem gut bezahlt, mit hohem Prestige. Er habe wirklich mit sich gerungen, erinnert sich Mirbabaie. Und sich dann doch für die unsicherere Variante entschieden: eine befristete, mäßig bezahlte Stelle an einer Hochschule.
Warum diese Wahl? „Weil ich es zumindest versucht haben wollte: Ich liebe das Forschen und Lehren zu sehr, um es freiwillig aufzugeben. Und bislang läuft es ja ganz gut“, erwidert Mirbabaie lachend.
Text: Jenny Niederstadt